Die Moral

Der seit dem 16. Jahrhundert in der Bedeutung “sittliche Nutzanwendung”, “Sittlichkeit” verwen­dete Begriff geht auf das lateinische mos, moris (Sitte, Anstand, Brauch, Gewohnheit, Charakter) zurück und signifiziert in seiner Grundbedeutung einen “zur Regel erhobenen Willen”, also das Diktat eines Mächtigeren gegenüber einem Schwächeren (“demokratischer” formuliert: den Willen der Mehrheit gegenüber einer Minderheit), belegt in seiner indogermanischen Wurzel [starken Willens sein; (heftig) begehren; durchsetzen; erzwingen]. Bereits hieraus, noch mehr jedoch aus seinem Negativum (demoralisieren = entmutigen) entlarvt sich die Moral selbst: als exogener Zwang – ein fürwahr stark ent-freiheitlichendes Element.

Insofern stellen die moralischen Zwänge und Verpflichtungen, denen wir uns allgegenwärtig ausgesetzt sehen, in ihrer Summe einen Grundpfeiler der Einschränkung der Freiheit des Einzel­nen durch ein Diktat der Massen (von außen) dar, der uns jedoch zumeist gar nicht als solcher bewußt ist.

Zudem wird Moral zumeist (und völlig gedankenlos) mit Ethik gleichgesetzt und synonym verwendet. In Wahrheit bezeichnet jedoch Ethik den instinktuellen, endogenen (von innen kommenden) Impetus, der allen Menschen jeder Herkunft und Rasse nahezu identisch innewohnt, und Moral ist tatsächlich vor allem ein Mangel an Gelegenheit (und sehr fragil). Aber sagen Sie einmal Ihrem Nachbarn, daß Sie sich als höchst amoralischen aber gleichwohl ethischen Zeit­genossen sehen …

Das Geflecht der uns umgebenden, unser Tun und Handeln als Korrektiva und Korrelativa begleitenden “Moralitäten” beraubt uns somit schon eines Großteils dessen, was wir persönliche Freiheit nennen könnten. Höchst unangenehm: Wir selber sind es, die dieses Geflecht stützen und tragen – tagtäglich vieldutzendfach. Es determiniert unsere Scheu, zu sagen, was wir wirklich denken; zu tun, was wir eigentlich gerne täten (uns aber nicht trauen); und selbst in unseren Gedanken spielen moralischeBedenken” [was in Wahrheit mehr ein Fühlen und (Folgen) Befürchten ist] eine fast ständig wirkende Rolle. Denn in allzu vielem, was wir ehrlicherweise sprächen, täten oder dächten, stießen wir (vielleicht) auf die Mißachtung und das Stirnrunzeln unserer Umwelt, lösten Befremden und Mißtrauen aus oder verstießen gar – vergessen Sie das Märchen von der Meinungsfreiheit – gegen staatliche Ordnung und Gesetz, Anstand und Üblichkeiten.

Die bislang angesprochenen Institutionen und Organisationen stellen exogene Faktoren der Entfrei­heitlichung dar, mittels derer jeder Staatsbürger stringent und persistent unter Kontrolle gehalten, auf Linie gebracht und reglementiert wird. Der dabei entscheidende Faktor ist, daß die natürliche Entfal­tung und Lebensgestaltung einer Normierung untergeordnet wird – aus natürlichen Menschen werden somit normale Bürger.

Wie ist es aber möglich, intelligente Menschen ihrer eigenen Natürlichkeit in so korrupter Weise zu entfremden und zu normalisieren? Eigentlich müßte doch der Intelligenzquotient selbst des Durch­schnittsbürgers bei weitem ausreichen, um zu erkennen, wie mit Hilfe dieser Machtparameter Einzelne wie auch Gruppen und ganze Völker umfunktioniert, ent-natürlicht und zu scheinbar willen– und wehrlosen Funktionsfaktoren innerhalb eines Staates transformiert werden.

Nun, dazu bedienen sich die “Strippenzieher” dieser multiplen Zwangsherrschaft recht einfacher Methoden: Sie appellieren an die Urängste und –bedürfnisse der Menschen, wobei sie – ähnlich einem (der in unserem Wirtschaftssystem so gefeierten) Spitzenverkäufer, der sogar einem Eskimo einen Kühlschrank verkaufen würde – den Empfängern ihrer “Botschaften” suggerieren, daß nur sie in der Lage dazu seien, diese Urbedürfnisse der Menschen zu befriedigen (Sicherheit, Bequemlichkeit, Komfort, Anerkennung und Prestige). Gleichzeitig drohen sie jedoch unterschwellig (bisweilen sogar unverhohlen) mit der Botschaft, daß die Menschen nur in dem Maße (und auch nur so lange) den Schutz der “Allmächtigen” genießen dürfen und damit ihrer existenziellen Ängste enthoben sind, wie sie sich dem zwanghaften Diktat der staatlichen Gewalt (und ihrer untergeordneten Organe) zu unter­werfen bereit sind. Wer sich also sträubt, im “Chor der Entmündigten” mitzusingen, der wird geschaßt, ihm wird die Benevolenz, der Schutz und die Zuwen­dung der Masse entzogen.

Doch genau das ist es, wovor die meisten Menschen Angst haben, was die meisten Menschen daran hindert, ihre eigene Macht und Kraft, ihre Individualität zu erforschen, auszuprobieren und einzuset­zen.

Der Prozeß der Ent-Individualisierung, der Vermassung und Versklavung des Einzelnen beginnt bereits in der Familie (der kleinsten Zelle des Staates) und setzt sich in der Schule, im Beruf und in der Gesellschaft auf jeweils höheren Ebenen und in größeren Gemeinschaften fort.

Der höchst natürliche Drang des Kindes, seine Umwelt und sein persönliches Umfeld neugierig zu erforschen, wird bereits früh gebremst und kanalisiert, gesellschaftlichen Normen angepaßt und unterworfen. Das Ganze bezeichnet sich als Sozialisierung, und es obliegt den Eltern [die selbst bereits in starkem Maße (oder sogar perfekt) sozialisiert wurden], ihre Kinder zu ebenfalls “sozial” angepaß­ten, pflegeleichten, für die Gesellschaft bequemen Staatsbürgern zu erziehen. Dieser Aufgabe kommen die Eltern – in höchstem Maße darum bemüht, sich als gute Eltern ihrem Umfeld gegenüber zu beweisen – auch bestens dressiert nach. Wer dieser Normierung der eigenen Kinder am ehesten entspricht, genießt in der Gesellschaft auch das höchste Ansehen, und genau daran orientieren sich auch die Schulen (mit ihren Lehrinhalten), die Universitäten und der Beruf.

Peinlich für die Eltern wird es nur, wenn ihre Kinder (aus deren natürlichem Drang, sich wenigstens einen Rest individueller Natürlichkeit zu bewahren) “aus dem Ruder” laufen. Tröstlich, daß dies vielen Eltern passiert, woraus sich wiederum trefflich Erklärungen ableiten und ein gemeinsames “Leid” teilen läßt. Von außen betrachtet ergibt sich bereits hier ein verwirrendes Gemenge der Rechte und Pflichten für Eltern, die einerseits (gesetzlich) zum Schutz für und zur Aufsicht über ihre Kinder verpflichtet sind, andererseits in ihrer erzieherischen Aufgabe nicht frei sondern an staatliche Vorgaben und gesellschaftliche Rahmenbedingungen gebunden sind. Schon dabei wird mit einem Wust von Versagens- und Verlustängsten gearbeitet, da den Eltern keine realen Qualitätsmaßstäbe für den Wert ihrer Erziehungsarbeit zur Verfügung stehen, sondern immer nur ein vermuteter Abgleich mit den Ergebnissen anderer Erziehungsfortläufe als reichlich diffuser Vergleichsparameter.

Der gesamte Erziehungsprozeß steht also mehr unter dem Diktat der Umwelt – “wie muß ich meine Kinder erziehen, damit mir später – sowohl von diesen als auch von der Gesellschaft –  keine Vorwürfe gemacht werden können” –, als daß es darum geht, den Kindern dabei zu helfen, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten bestmöglich zu entfalten und ein Höchstmaß an Individualität und persönlicher Freiheit zu entwickeln. Das Ergebnis “perfekter” Erziehungsdressur liegt in der Weitergabe von Versagens– und Verlustängsten, einer normierten Feigheit, angepaßtem “Duckmäusertum” und regelrecht devotem, obrigkeitshörigem “Kriechtier”tum – fürwahr “freiheitliche”, menschenwürdige und “demokratischeVerhaltensmuster.

Das Ende vom Lied: Auch die Kinder unserer Kinder übernehmen im Laufe der Erziehung die Versa­gens– und Verlustängste ihrer Eltern und das Unmaß an Normierungen aus ihrem Umfeld – zumeist, ohne diese Zusammenhänge im Laufe ihres Lebens jemals sauber sortiert hinterfragen zu können. Eine Kette der Entmenschlichung. Insoweit macht es – aus der Sicht des staatlichen Zwangsmonopols – absolut Sinn, daß Philosophie, Pädagogik und Psychologie weder in der Schule gelehrt noch Eltern zur Unterstützung ihrer erzieherischen Funktion angeboten werden. Das könnte diese perfekt geschmiedete Systematik regelrecht gefährden!.

So wurschteln sich die Menschen erst als Kinder, dann als Eltern mehr schlecht als recht durch den amorphen Brei des diffusen Begriffs Erziehung – in der vagen Hoffnung, nicht allzu viele Fehler zu machen und vor der Gesellschaft halbwegs bestehen zu können.

Unser Aller Leben ist von Begriffen durchsetzt, die einerseits an unsere Wünsche, andererseits an unsere Ängste appellieren. Wir streben nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit, messen unseren Wert an unserer wirtschaftlichen Stärke, beäugen voller Neid das Mehr des anderen und trösten uns mit dem Weniger, das wiederum andere aufzuweisen haben. Will­fährig und ach so gut-meinend verspricht uns der Staat genau die Sicherheit, Chancengleichheit und Gerechtigkeit, nach denen wir unterschwellig dürsten und mittels derer wir Nachteile auszugleichen hoffen, die wir anderen gegenüber empfinden. Daß wir uns damit in schier unglaublichem Maße der eigenen Freiheit berauben und einem Kuratel unterwerfen lassen, wird den meisten überhaupt nicht, dem Rest erst viel zu spät klar. Jede Sicherheit – das ist ein Gebot der Logik – hat ihren Preis. Insofern ist das Versprechen von Politikern “Freiheit und Sicherheit” per se ein absolutes Paradoxon, was jedoch von den meisten Menschen dankbar inhaliert und überhaupt nicht hinterfragt wird.

Nun gibt es aber einige BürgerInnen, denen diese Zusammenhänge sehr wohl klar sind und die mehr Wert darauf legen, ihr eigenes Leben selbstbestimmt zu gestalten, statt sich – gegen den Preis von Entmündigung und Bevormundung – fremdsteuern und entfreiheitlichen zu lassen. Diese “Unbelehr­baren” muß der Staat (will er sein Monopol wahren) dann mit “geeigneten” Mitteln zur Räson rufen.

Zu diesem Zwecke schuf der Staat ein multiples Geflecht von Zwangssystemen, Gesetzen und Verordnungen, die dem Freiheitsdrang des Einzelnen ganze Wagenladungen von Steinen vor die Füße und Knüppel zwischen die Beine werfen, nach dem Motto: Früher oder später gibt dieser Unbeug­same schon auf, resigniert und wird gefügig!

Diese Zwänge sind aber zumeist nicht offensichtlich als solche zu erkennen, vielmehr werden sie mit “moralischen” Versatzstücken garniert; der Staat schwingt sich zum Beschützer der Armen, Kranken, Schwachen, weniger Begüterten, weniger Intelligenten, Alleinstehenden, Behinderten, sozial Ausge­grenzten und Unmündigen auf. Da es immer mehr Schwache als Starke, mehr Arme als Reiche, mehr Mieter als Vermieter, mehr Bequeme als Strebsame, mehr Faule als Fleißige und mehr Dümmere als Intelligente geben wird, sammelt der Staat zur Rechtfertigung seines Vorgehens, seiner Gesetze und Verordnungen, seiner Zwangsmaßnahmen und funktionalen Eingriffe in das gesamte Leben aller in seinem Einflußbereich stehenden BürgerInnen die Teilmengen derer, die eben kränker, schwächer, weniger fähig oder bereit sind. Er sichert sich damit genau die Majorität, die ihm – unter korruptem Mißbrauch des Wortes Demokratie – die Herrschaft sichert, ja, diese sogar offiziell legitimiert.

Nun fügt sich das Ganze zu einem klaren Bild: Der Übervater Staat suggeriert Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Sicherheit für alle, die sich seinem Diktat und seinen Normen vorbehalts- und widerspruchslos beugen. Dazu bedient er sich entsprechender Kontrollmechanismen. Gleichzeitig sorgt die Menge der von ihm erlassenen Verordnungen und “Dienstanweisungen” zum einen dafür, daß jedem in seinem Machtbereich Lebenden der Durchblick fehlt, andererseits keiner alle Gesetze befolgen kann, zumal sich viele sogar widersprechen und miteinander kollidieren. Andererseits profi­tiert der Staat – vergleichbar mit einer “Schutzgeld”-Mafia – davon, daß immer wieder Einzelpersonen oder Gruppen diese Gesetze brechen; um so deutlicher wird für den braven Rest der Bürger die (scheinbare) “Notwendigkeit” der Schutzfunktion des Staates.

Dem hehren Ziel der Demokratie entspricht der Staat (vorgeblich) durch die generelle “Parteienviel­falt”, die sich jedoch in Wahrheit nur auf eine semantisch-theoretische beschränkt. Die “Ordnung” in den Teilorganisationen des Staates garantieren (quasi als Abteilungsleiter) Beamte und öffentlich Bedienstete, und über all dem thront als “Vorstand” der Bundestag und als “Aufsichtsrat” der Bundes­rat.

Die Eltern nehmen in diesem “volkseigenen Betrieb” (VEB) – den sich in Wahrheit Parteien, Gewerk­schaften, staatliche Organe und die Kirchen im Zusammenspiel mit den großen Konzernen und deren Lobbyisten teilen – die Rolle von Gesellen wahr (mit beschränkten Lehr- und Aufsichtsfunktionen bedacht), den Kindern und Jugendlichen obliegt die Rolle von Lehrlingen. Die Kaste der Unter- und Abteilungsleiter ist in Parteien, Verbänden und strukturell ähnlichen Organisationen zusammen­geschlossen. Der Staat ist in sämtlichen strategisch bedeutsamen Wirtschaftszweigen mit eigenen Unternehmen vertreten, die übrigen werden durch die Gewerkschaften sowie die Industrie- und Handelskammern/ Handwerkskammern unter Beobachtung und Kuratel gehalten. Der Staat hält sich alle Möglichkeiten offen, Daten und Fakten zu sammeln, veröffentlicht wird aber nur, was entweder banal oder dem staatlichen Zwangsmonopol genehm und opportun erscheint. Ein Mindestmaß an Unsicherheit stärkt den Ruf nach staatlicher Sicherheitsvorkehrung, und auch i.p. Gerechtigkeit soll, kann und darf nichts ohne die stringente Einflußnahme des Staates ablaufen.

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